Thomas Bellinck: “Auch die nationalen Identitäten sind Konstruktionen”

Der belgische Regisseur Thomas Bellinck präsentierte bei den Wiener Festwochen 2014 „Das Haus der Europäischen Geschichte im Exil“. Mit dieser inszenierten Ausstellung wirft er aus einer fiktiven Zukunft den Blick auf die Gegenwart – und regt damit zu Nachdenken über die EU an. Das Interview fand am 21. Mai 2014 in Wien statt. Eine gekürzte Version erschien am 24. Mai 2014 im “Standard“.

Mit Ihrer Ausstellung „Das Haus der Europäischen Geschichte im Exil“, gegenwärtig bei den Wiener Festwochen zu sehen, werfen Sie aus der Zukunft einen Blick zurück auf die EU bis zur Auflösung 2018. Wie kamen Sie denn auf diese Idee?

Die KVS, die königlich-flämische Schaubühne in Brüssel, fragte mich, ob ich ein Stück über Jean Monnet, einen der Gründerväter der EU, machen will. Ich habe lange darüber nachgedacht – und kam zur Überzeugung, dass es heute wichtiger ist, über das Ende zu reden als über als der Anfang.  Ich las zum Beispiel „In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“ von Geert Mak aus dem Jahr 2004. Ein superspannendes Buch. Mak recherchierte auch in Wien und stellte fest, dass in den österreichischen Medien 1914 sehr viel über das Begräbnis des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand berichtet wurde, aber fast nichts über den kommenden Krieg. Er meint, dass wir uns heute wieder in einer solchen historischen Situation befinden – und das nicht realisieren. Ich glaube das stimmt. Denn wir haben keine Distanz zur Gegenwart. Daher wollte ich eine Distanz  aufzubauen, um die Gegenwart anders zu sehen können. So bin ich auf die Idee eines fiktiven Museums gekommen, das nach der Implosion der EU als einziges übrig bleibt.

Das Haus der Europäischen Geschichte ist aber keine Fiktion: Es wird wirklich gebaut.

Ja, es soll 2015 eröffnet werden.  Das war schon sonderbar: Man hatte das Gefühl, dass wegen der Krise alles zusammenbricht, und gleichzeitig wurde beschlossen, ein Museum über die europäische Harmonisierungsgeschichte zu bauen. Ich muss aber zugeben, dass das Projekt sehr interessant ist. Die Historiker versuchen auch die Kritik an der EU darzustellen. Es ist doch kein Parlamentarium.

Parlamentarium?

Das Besucherzentrum im EU-Parlament. Dort wird erzählt, dass nach einem alles vernichtenden Krieg das EU-Parlament die einzige Lösung war. Zu Beginn sieht man in einem düsteren Raum die Bilder vom Zweiten Weltkrieg – und dann kommt man in einen hellen, grünblauen Raum. Das Parlamentarium tut so, als sei die EU die höchste Ausformung der Demokratie; Schattenseiten werden nicht thematisiert. Ich war letzten Sommer in China in einem Propagandamuseum. Dort wurde einem erklärt, dass der Kommunismus nach einem alles vernichtenden Krieg die einzig sinnvolle Lösung war, um Friede und Wohlstand zu bringen. Es sah sehr ähnlich aus: zuerst Bilder vom Krieg, und zum Schluss kommt man in einen hellen, roten Raum mit Mao. Ich möchte keinesfalls die EU mit Mao vergleichen, aber das Instrumentarium der Propaganda ist ähnlich.

Ist Ihre Ausstellung, die 2013 zunächst in Brüssel zu sehen war, eine Art Warnung?

Ja. Ich bin zwar kritisch, aber ich bin europäisch. Ich wollte mit der Ausstellung ein Gefühl von Nostalgie kreieren. Ein Gefühl, das man normalerweise für etwas hat, das verschwunden ist. Damit sich die Menschen überlegen können, wie es wäre, wenn es zu spät ist, wenn es die EU nicht mehr geben sollte.

Eine Warnung an die Politik – oder an die Bürger?

An alle. Wir haben am Sonntag Europawahl. Aber kaum einer kennt die europäischen Fraktionen und deren Programme. Man wählt, obwohl es um Europa geht, sehr lokal. Darüber sollte man nachdenken. Das ist unsere bürgerliche Verantwortung. Manche nationalen Politiker geben uns das Gefühl, die EU sei eine abstrakte Maschine, die Entscheidungen trifft, auf die wir keinen Einfluss haben. Das stimmt so nicht. Wir haben dieses geeinte Europa geschaffen, diese Maschine kreiert. Leider haben wir vergessen, wie sie funktioniert. Ich will den Besuchern sagen: „Das ist Eure Maschine! Denkt darüber nach! Denn nur wenn Ihr wisst, wie sie funktioniert, könnt Ihr sie andern!“

Die Maschine ist ziemlich komplex. Sie thematisieren unter anderem den monströsen Lobbyismus.

In Brüssel arbeiten 15.000 Menschen, die permanent mit Lobbyismus beschäftigt sind. Das ist riesig. Ich verteufle aber die Lobbyisten nicht. Auch Amnesty International, WWF und andere NGOs brauchen Lobbyisten. Und die Politik braucht Spezialisten, das ist klar. Aber es braucht eine Regulierung. Und es muss einen Puffer zwischen Lobbyismus und Politik geben. In den USA muss jeder Lobbyist offenlegen, für wen er arbeitet und wie hoch das jährliche Budget ist. In Europa haben wir nun auch so ein Transparenz-Register, aber es gibt keine Verpflichtung zur Offenlegung. Die Lobbyisten können sich eintragen, wenn sie Lust dazu haben. Das ist ein Blödsinn.

Hinzu kommt, neben den Abertausenden Verordnungen und vielen Versäumnissen, darunter eine Steuerunion, das Bekenntnis zum Kompromiss. Führt es tatsächlich zum Stillstand?

An sich ist es gut, dass man sich nicht mehr auf dem Schlachtfeld gegenübersteht, sondern an einen Tisch sitzt – und dass man so lange redet, bis es eine Lösung gibt. Ich verteidige daher den Kompromiss. Andererseits braucht es sehr lange, bis eine Entscheidung gefällt wird. Leider gibt es heute Parteien, die sagen: „Wir machen keine Kompromisse!“ Das ist erschreckend. Ich sehe auch aus Angst geschlossene Kompromisse kritisch. Die EU hat zum Beispiel keine offizielle Fahne, denn die nationalen Symbole sollen wichtiger sein. Es gibt daher nur ein Logo. Aber es darf auch auf Stoff gedruckt werden – und ist dann eigentlich eine Fahne. Oder der Euro: Man entschied, dass darauf europäische Stile und Epochen dargestellt werden. Auf dem Fünf-Euro-Schein wollte man die Pont du Gard von Nîmes abbilden. Doch dann wurde Kritik laut: Eine französische Brücke auf europäischem Geld – das ginge nicht. Man bekam Angst und entschied, dass keine nationalen Symbole verwendet werden dürfen. Wir sind daher die einzigen, die Geldscheine mit Monumenten haben, die es gar nicht gibt.

Unterliegt die europäische Idee dem Nationalismus?

Nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte man, dass der Nationalismus verschwinden wird. Aber jetzt kehrt er wieder. Die europäische Identität ist für viele etwas Fremdes. Etwas, das von oben diktiert wird. Nationalismus hingegen sieht man als etwas Organisches an. Man hat vergessen, dass auch die nationalen Identitäten Konstruktionen sind, sie existieren erst seit ein paar Jahrhunderten. Österreich ist genauso eine Konstruktion wie Belgien.

Österreich ist aber bereits 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, zerfallen.

Meine Eltern sind Flamen. Ihre Generation musste wirklich um Grundrechte kämpfen, zum Beispiel um einen Unterricht in der eigenen Sprache und so weiter. Ich verstehe daher, dass sie ein Nationalgefühl haben. Nationalismus und Separatismus sind, wenn eine Minderheit unterdrückt wird, ein notwendiges Instrument, um sich zu befreien. Damit bin ich einverstanden. Aber der Streit ist ausgefochten. Als ursprünglich niederländisch sprechender Belgier habe ich nie das Gefühl, dass ich unterdrückt werde. Dennoch setzt man weiter auf diese Themen. Separatismus ist wieder salonfähig geworden – unter dem Deckmantel „Konföderalisierung“. Mir macht Angst, dass der Nationalismus immer extremer wird.

Auf einer Karte ist die EU in ihrer größten Ausdehnung zu sehen: Als letzte Mitgliedsstaaten werden 2017 Schottland, das sich von Großbritannien losgelöst hat, und die Westukraine, ein Rumpfstaat ohne Meerzugang, aufgenommen. Haben Sie die Entwicklung in der Ukraine geahnt?

Nein. Ich las Studien von Geopolitologen. Der US-Amerikaner George Friedman schrieb 2009 in seinem Buch „Die nächsten hundert Jahre“, dass Russland so im Jahr 2015 die Ukraine und danach Weißrussland annektieren werde. Ich fand das hoch interessant, aber vor einem Jahr noch völlig unglaubwürdig. Mein Museum ist zwar fiktiv, aber die dargestellten Szenarien sollten zumindest möglich sein. Daher ließ ich die Ukraine einfach bestehen. Erst für Wien habe ich die Karte aktualisiert. Auf ihr gibt es Weißrussland nicht mehr.

Die Ausstellung endet mit einer Selbstmordwelle.

Man berichtet darüber nicht, um Nachahmer zu verhindern. Aber man muss sich nur anschauen, wie die Zahl der Selbstmorde aufgrund der Finanzkrise gestiegen ist – wirklich signifikant in Ländern wie Griechenland, Spanien und Italien. Das gibt es eine gemeinschaftliche Verantwortung.

Warum ein so deprimierender Schluss?

Heuer erinnert man an den Ersten Weltkrieg. Flandern vermarktet sich als „Friedensregion“ – obwohl Belgien einer der größten Schusswaffenexporteure in Europa ist. Das ist paradox. Man sagt immer: „Nie wieder Krieg!“ Das hoffe ich auch. Aber was wäre, wenn es wirklich wieder einen Krieg gäbe? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Krieg ist. Denn meine Generation hat nur Friedenszeiten und Wohlstand erlebt. Vielleicht sollten wir über Krieg reden, um zu vermeiden, dass einer kommt. Zudem sehen wir, dass Rechtsextremismus, Nationalismus, Antisemitismus und Xenophobie wiederkommen. Das wollte ich auch mit dem Museum: Über Krieg reden, um dafür zu sorgen, dass es keinen Krieg gibt.

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