Ruth Klüger: “Es war ein Zeitalter der Verluste”

Ruth Klüger, geboren am 31. Oktober 1931 in Wien, wurde kürzlich, Mitte Juni 2015, zweifach ausgezeichnet: Die Universität Wien verlieh ihr das Ehrendoktorat, die Ärztekammer überreichte ihr den Paul-Watzlawick-Ehrenring. –

Bereits 1992 hatte die Literaturwissenschaftlerin ihr Buch „weiter leben. Eine Jugend“ veröffentlicht. Wie viele andere stieß ich aber erst 2008 auf diese schonungslosen, mit Reflexionen ergänzten Erinnerungen an die Kindheit in Wien während des Nationalsozialismus und die Gefangenschaft unter anderem im KZ Auschwitz-Birkenau: Im Rahmen der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ wurde „weiter leben“ als Taschenbuch in einer Auflage von 100.000 Stück gratis in Wien verteilt.

Im Frühsommer 2011 weilte Ruth Klüger, die in Kalifornien lebt, wieder einmal in Österreich. Sie sprach beim Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Parlament, am 20. Mai wurde sie in Krems mit dem Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und Exil ausgezeichnet, wenig später nahm sie an den Pfingstdialogen „Geist & Gegenwart“ auf Schloss Seggau bei Leibnitz teil. Das Organisationsbüro des Symposions stellte mir einen Kontakt her. Und so traf ich Ruth Klüger am Vormittag des 7. Juni 2011 im Café Zartl in der Rasumofskygasse, da sie dort ums Eck bei einer Freundin wohnte.

Kollegen hatten mich gewarnt, dass Ruth Klüger harsch sein könne. Der erste Eindruck schien dies zu bestätigen. Denn Ruth Klüger sagte mit ironischem Unterton: „Klappern Sie jetzt alle betagten Juden ab?“ Sie hatte im „Standard“ meinen „Album“-Aufmacher über die Schicksale der Cousins Emile Zuckerkandl und Georges Jorisch in der NS-Zeit gelesen, der am 4. Juni erschienen war. Aber sie äußerte sich sogleich anerkennend – und gab mir ein berührendes Interview. Mein Angebot, ihr den fertigen Text zum Gegenlesen zuzumailen, schlug sie aus.

Ein halbes Jahrhundert trugen Sie am linken Unterarm die Nummer, die man Ihnen in Auschwitz-Birkenau eintätowiert hatte: A-3537. Warum haben Sie sich dann doch, nach so langer Zeit, dazu entschlossen, die Nummer in einer kalifornischen Laserklinik entfernen zu lassen?

Sie hat zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen – mit den Jahren immer mehr, weil es immer weniger Leute gibt, die diese Tätowierung haben. Es war mir einfach peinlich geworden. Vor allem, weil viele Leute ein Ressentiment dagegen zu haben schienen. Als ob ich sie ihnen aufdrängen, als ob ich sagen wollte: „Schaut her, ich war im Lager!“ Im Sommer trage ich eben kurze Ärmel – und dachte mir wenig beim Anziehen. Es war gesellschaftlich unangenehm, besonders in Österreich und Deutschland. Aber der tiefer liegende Grund war, dass ich diese ganze Sache gewissermaßen abgearbeitet habe. Ich brauchte die Nummer nicht mehr zu tragen. Ich überlegte mir, dass hinter dem Behalten der Nummer eine Verpflichtung gegenüber den Toten stand. Und dann dachte ich mir: Ich habe dieses Buch geschrieben, jetzt kann ich mir die Nummer nehmen lassen – und die letzten Jahre ohne sie verbringen. Ich habe es nicht bereut.

Das Buch, 1992 veröffentlicht, heißt „weiter leben. Eine Jugend“. Ein älterer Jude, so berichten Sie, hätte Sie gefragt: „Wer gibt Ihnen das Recht, wie ein Mahnmal herumzulaufen?“

Er war sogar ein Wiener Jude, mein Lehrer Heinz Politzer. Ich war ganz schockiert.

Den SS-Soldaten tätowierte man die Blutgruppe in den Oberarm. Dafür gab es einen logischen Grund: Um den Verletzten rasch die richtigen Blutkonserven geben zu können. Warum aber hat man die ohnedies todgeweihten KZ-Insassen gebrandmarkt?

Ich kann Ihnen keine Antwort darauf geben. Ich hab das so hingenommen. Man konnte nicht weglaufen, wenn man eine Nummer hatte. Aber Flucht aus Auschwitz war sowieso praktisch unmöglich. Also: Ich weiß es nicht.

Sie haben großen Wert darauf gelegt, die Geschichte nicht zu verfälschen. Dennoch nennen Sie die Menschen nicht bei ihren richtigen Namen. Warum?

Ich glaube, ich wollte die Menschen schützen oder nicht ganz verantwortlich sein. Meine Pflegeschwester, die Susi, sagte aber, sie will unbedingt ihren eigenen Namen haben. Ich hab das Buch danach ins Englische übersetzt – und die richtigen Namen verwendet. Vielleicht hat es auch damit zu tun gehabt, dass ich Martin Walser nicht mit Namen nennen wollte. Um nicht damit anzugeben, dass ich einen bekannten deutschen Schriftsteller kenne.

Wirklich?

Ja. Denn ich war völlig unbekannt. Auch in Amerika. Ich war so eine Wald- und Wiesengermanistin, von denen gibt es viele. Da wollte ich nicht schreiben: Ich bin mit einem bekannten Schriftsteller befreundet. Es war irgendwie so ein Instinkt, dass ich die Menschen nicht beim richtigen Namen nenne. Ich habe mich auch geweigert, eine Fotografie von mir reinzutun. Vielleicht wollte ich, dass es paradigmatischer wird.

Ihren eigenen Namen haben Sie aber nicht geändert.

Oh doch! Im Laufe des Schreibens des Buchs bin ich zu meinem Mädchennamen zurückgekommen. Bis dahin habe ich den Namen meines Mannes Angress getragen. Und dann ist mir aufgegangen: „Das ist ja gar nicht mein Name, den will ich nicht.“ In Amerika ist es sehr leicht, den Namen zu ändern.

Ich habe mich nicht exakt ausgedrückt. Im Buch sind Sie – wie im richtigen Leben – die „Susi“ beziehungsweise später, nach dem Einmarsch Hitlers, die „Ruth“. War es wirklich ein bewusster Akt, nicht mehr Susi sein zu wollen? Sie waren ja nicht einmal sieben Jahre alt.

Ja, ich war wirklich in Rebellion mit den Deutschen. Es war ein Aufwachen ins Leben. Ich sagte mir: „Die Deutschen haben doch hier nichts zu suchen. Und alle Leute, die ich kenne, sind gegen sie. Warum spricht man nicht darüber? Warum hat die Lehrerin Angst vor ihnen?“ Das war eine bewusste Entscheidung.

Wenn Sie die NS-Zeit nicht hätten erleben müssen: Wären Sie noch immer die Susi?

Ha! Ich wäre noch immer in Wien. Das glaube ich schon. Das ist ein gelegentliches Gesprächsthema: Was wäre ohne Hitler aus uns geworden? Und die erste Antwort ist: Man wäre in Wien geblieben. Aber ob ich die Susi geblieben wäre? Ich hätte auch so eine bewusste Jüdin werden können. Mein Vater war Zionist, das hätte schon sein können.

Sie beschreiben die NS-Zeit in Wien mit dem Satz: „Man trat auf die Straße und war in Feindesland.“ Positive Erlebnisse gab es keine?

Ich fuhr einmal mit der Stadtbahn. Ein Mann drückte mir eine Orange in die Hand – offensichtlich wegen des Judensterns, den ich trug. Ich habe mit einem dankbaren Augenaufschlag geantwortet. Und ich habe schon eingesehen, dass er etwas Mut dazu brauchte. Aber ich war eigentlich nicht dankbar. Ich habe mich ein bisschen – wie soll man sagen? – erniedrigt, zumindest vereinnahmt gefühlt.

Die Zeit war für Sie sehr bedrückend und dunkel.

Ja, bedrückend und dunkel. Man wusste nicht, wie man sich auf der Straße verhalten sollte. Man machte sich so unscheinbar wie möglich. Man konnte nirgendwo hingehen. Es gab keine Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben oder etwas zu lernen. Ich hätte gern mehr gelernt. Aber ich war nicht mehr in der Schule. Bücher lesen: Das war das einzige, was man machen konnte. Man konnte nicht einmal spazieren gehen. Diese Stadt ist für mich noch immer weitgehend so. Emigranten, die ein paar Jahre älter waren als ich, haben Wien noch als Heimatstadt erlebt. Für mich ist sie einfach Geburtsstadt. Was nicht ganz stimmt: Ich habe hier sprechen gelernt. Sie bleibt also ein Stück von einem selbst. Aber die unangenehmen Erinnerungen kommen halt immer wieder hoch. Die Stadt bedrückt mich, sogar wenn sie leuchtet.

Auch heute noch?

Die Frage ist irgendwie unfair. Ja und Nein. Ich würde ja nicht zurückkommen, ins Theater gehen, mit Freunden sprechen, wenn es wirklich so wäre. Andererseits, wenn ich mich frage: „Könnte ich hier leben?“ So ist die Antwort immer: „Nein.“

In einem Interview mit Spiegel Online sagten Sie: „Wien schreit nach Antisemitismus.“

Die haben sogar die Überschrift daraus gemacht: „Wien schreit nach Antisemitismus.“ Aber ich habe das in einem Kontext gesagt. In meiner Erinnerung ist Wien die antisemitische Stadt. Wenn ich an der Hofburg vorbeigehe, erinnere ich mich, wie ich damals an der Hofburg vorbeigegangen bin – und auf den Steinen Antisemitisches stand. In Göttingen, wo ich eine Zweitwohnung habe, habe ich nicht dieses Gefühl. Göttingen war natürlich genauso eine antisemitische Stadt: Praktisch um die Ecke, in Braunschweig, ist Hitler deutscher Staatsbürger geworden. Im Stadtmuseum kann man sehen, wie die SA damals marschiert ist. Und ich weiß, an welchem Platz die Bücherverbrennung unter der Leitung eines Germanisten – ich bin auch Germanist – stattgefunden hat. Aber trotzdem: Für mein Gefühl ist Göttingen keine antisemitische Stadt. Und Wien schon.

Sie erwähnen nur nebenbei, dass Ihr Vater Ihren Bruder abgetrieben hat. Das muss eine unglaubliche Verzweiflungstat gewesen sein.

Er war Gynäkologe. So hat es mir meine Mutter erzählt.

Ihr Vater konnte nach Italien fliehen, weil sich Ihre Mutter verpflichtet hatte, die Reichsfluchtsteuer zu bezahlen. Aber sie konnte das Geld nicht aufbringen. Warum ist sie trotzdem in Wien geblieben?

Weiß der Kuckuck! Wohin hätte sie hin sollen? Die Annahme war, dass Frauen und Kinder nicht gefährdet sind. Später hat man schon gewusst, dass das nicht stimmt. Aber später war es zu spät. Mir wurde nie klar, warum es ihr nicht irgendwie gelungen ist, herauszukommen. Sie wurde eben nicht erzogen, selbstständig zu sein, sich auf die Flucht zu begeben und in Abenteuer zu stürzen. Die Frauen haben sich auf die Männer verlassen. Viele Frauen, deren Männer ausgewandert oder geflohen sind, sind hier geblieben. In Theresienstadt war eine große Anzahl alter Frauen, deren Söhne im Ausland waren – und die froh waren, dass sie im Ausland waren. Aber man fragt sich: Warum haben die Jungen die Alten zurück gelassen?

Den Transport nach Theresienstadt im September 1942 – Sie waren damals knapp elf Jahre alt – sparen Sie in Ihrem Buch aus. Warum?

Wenige Erinnerungen daran. Es war, wenn ich mich recht erinnere, ein Personenzug.

Aber Sie schreiben auch nichts über die Tage zuvor. Das muss eine unerträgliche Situation gewesen sein.

Ja, da waren wir in einem scheußlichen Sammellager. Ich weiß nicht, in welcher Gasse. Wenn ich es wüsste, hätte ich es geschrieben. Es war ein kellerartiges Gelass.

An Theresienstadt haben Sie – das finde ich sehr interessant – nicht nur schlechte Erinnerungen.

Dort wurde ich sozialisiert. In Wien war ich so wahnsinnig isoliert: Es gab keine Kinder. Und die Erwachsenen haben sich einen Dreck um einen gekümmert – das hätte man schon erwarten können unter den Umständen. In Theresienstadt waren massenhaft Kinder. Dort habe ich gelernt, Freundschaften zu schließen. Und ich habe Geschichte gelernt, ein bisschen über Literatur geredet. Es gab in diesem überfüllten Quadratkilometer natürlich fortwährend Krankheiten, Epidemien. Und es gab oft so eine Panikstimmung. Es war eben ein Konzentrationslager, keine Frage. Es gab zwar nie genug zu essen, besonders für halbwüchsige Kinder, aber zumindest war man unter sich. Es gab keine Isolierung, und die kann unter Umständen ärger sein als Hunger.

Wie zuvor in den Sammelwohnungen.

Ja, wie in dieser Sammelwohnung in der Währingerstraße, nicht sehr weit entfernt von der Berggasse. Ich war später einmal dort. Aber ich bin nicht rein. Mir ist das Kotzen gekommen. Das war für mich das Ärgste an Wien: diese Einsamkeit, diese zunehmende Einsamkeit – in einer Zeit, in der sich das Gesichtsfeld von Kindern erweitert, in der sich der Freundeskreis erweitert. Bei mir hat er sich verringert. Die paar Freundinnen, die ich hatte, sind verschwunden, ausgewandert oder untergetaucht oder verschickt, was weiß ich.

Sie waren recht lang in Theresienstadt. Im Mai 1944, mit zwölfeinhalb Jahren, kamen Sie nach Auschwitz-Birkenau. Darf ich Ihnen dazu ein, zwei Fragen stellen?

Ersparen wir uns das. Darüber zu reden, das habe ich nie gekonnt. Das zu schreiben, was sehr schwierig. Übrigens: Diese Parlamentsrede, die ich am 5. Mai 2011 gehalten habe, war auch sehr schwierig zu schreiben. Das war kein Vergnügen.

Sie sprachen bei der Gedenkfeier im Parlament über das Kind-Sein im Nationalsozialismus. Und Sie trugen jenes Gedicht vor, dass Sie damals, 1944, über die Vergasung von Millionen Menschen verfassten. Auschwitz-Birkenau überlebt zu haben: Macht das auch stolz?

Nein. Bestimmt nicht. Das war ein Zufall. Man hat eben ein bisschen was dazu getan. Weil einem eben im richtigen Moment eingefallen ist, man soll probieren, herauszukommen – dank meiner verrückten Mutter.

Und dank einer unbekannten Frau, die Sie beschwor, bei der Selektion zu sagen, dass Sie bereits 15 Jahre alt sind. Dadurch kamen Sie ins Arbeitslager – und nicht in die Gaskammer.

Ja, wenn die noch lebt: Diese Frau sollte stolz sein! – Ein Buch, das mich sehr beeinflusst hat, ist von Cordelia Edvardson: „Gebranntes Kind sucht das Feuer“. Sie hat beinahe genau dieselbe Geschichte erlebt: Sie war in Theresienstadt, dann in Auschwitz. Und nach dem Krieg ist sie nach Schweden gekommen. Sie ist die uneheliche Tochter der Dichterin Elisabeth Langgässer, auch da gibt es auch ein schwieriges Mutter-Tochter-Verhältnis. Und in dem Buch werden Gedichte zitiert. Das hat mich alles sehr angesprochen. Da hab ich mir gedacht: „Das muss ich auch versuchen.“ Aber der Punkt, auf den ich hinsteuere, ist: Sie war Schreiberin in Auschwitz. Und sie sagt in ihrem Buch: Niemals ist einer, der zum Tod verurteilt wurde, auf die andere Seite gekommen – zu denen, die überleben durften. Ich schrieb ihr – es war das einzige Mal, dass ich einer Autorin geschrieben habe: „Kann es nicht sein, dass es doch einmal anders war? Und Sie waren die Schreiberin?“ Sie schrieb zurück, sie wollte, sie wäre es gewesen. Damit will ich nur sagen: Wenn jemand stolz sein könnte, dann diese Frau. Aber nicht ich! Ich bin nicht stolz auf diese Zeit. Das ist etwas, was nicht hätte stattfinden sollen. Andere, die Auschwitz durchgemacht haben, sehen das anders. Primo Levi, den ich sehr verehre, schreibt unverständlicherweise, dass das seine Universität gewesen wäre. Ich weiß gar nicht, was er damit sagen will. Und auch andere haben irgendwelche Schlüsse oder Lehren daraus gezogen. Nein! Wenn irgendetwas Gutes daran gewesen wäre, so könnte man ja sagen: Machen wir mehr davon!

Stolz dürfen Sie dennoch sein: Weil Sie den Mut gefasst haben, zu sagen: „Ich bin 15.“

Wenn ich daran zurückdenke, denke ich mir: „Ja, das war eine gute Sache.“ Aber stolz darauf? Schon eher, dass wir, sechs Frauen, geflohen sind. Wir waren dann in einem Arbeitslager, in einem Außenlager von Groß-Rosen, das aufgelöst wurde, weil es nahe der russischen Front war. Da war ein Fußmarsch, und wir sind geflohen. Die anderen sind später in Lastwaggons – in Viehwaggons, wie man zu sagen pflegt – nach Bergen-Belsen gekommen. Das haben wir uns erspart. Denn ob wir das überlebt hätten? Die arme Anne Frank ist dort mit ihrer Schwester gestorben. Auf diese Flucht war meine Pflegeschwester immer sehr stolz. Ich hab das auch für gut gehalten. Daran denke ich mit einigem Vergnügen zurück.

Vor allem: Damals haben Sie Ihre Mutter überreden können. Denn sie wollte noch auf die nächste Brotration warten.

Ja, genau.

Sie hatten ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu Ihrer Mutter. Sie schreiben einerseits voll Achtung über sie. Denn sie adoptierte in Auschwitz-Birkenau ein Mädchen, die Susi, die Sie in Ihrem Buch „Ditha“ nennen. Aber Sie kritisieren Ihre Mutter auch sehr.

Ja, es gab eine höchst neurotische Mutter-Tocher-Spannung, die noch ärger gemacht wurde durch die Umstände. In meinem zweiten Buch, „unterwegs verloren“, schreibe ich über ihren Tod. Als sie sehr alt war, hatte ich keine Probleme mehr mit ihr. Ich konnte mich um sie kümmern, und sie hat es zugelassen. Das hat nur Zeit gekostet. Diese Geduld bringt man schon auf für die Mutter.

Genial war, wie sie auf der Flucht Anfang 1945 zu einem Pfarrer gegangen ist, um von ihm Personalausweise zu bekommen.

Sie war eigentlich noch genialer, als sie dann mit dem Polizisten geflirtet hat. Das braucht noch mehr Kunst. Bei der Flucht wären wir mehrmals fast geschnappt worden. Dann jubelt man natürlich, wenn man noch einmal durchgekommen ist. Da war zum Beispiel das eine Dorf, wo ich den Kindern eine falsche Auskunft gegeben habe. Die fragten mich, wie oft mein Vater von der Front auf Urlaub nach Hause kam.

Und dann kam die Bevölkerung …

Ja. Da war es gefährlich. Da sind wir gelaufen! Aber es war kein verzweifeltes Laufen. Ich weiß nicht, wie es meine Mutter empfunden hat. Aber wir zwei Kinder haben das starke Gefühl gehabt: Jetzt kommen wir davon, der Krieg wird aus sein – und es wird alles gut werden.

Immer wieder thematisieren Sie in Ihrem Buch die Hoffnung. In Zusammenhang mit Auschwitz-Birkenau schrieben Sie: „Hoffen war Pflicht.“

Hab ich? Ja, man musste glauben, dass man da raus kommt. Wenn man die Hoffnung aufgibt, dann wird man das, was man damals einen „Muselmann“ nannte. Das waren die Hoffnungslosen. Die meisten Menschen haben bis zum letzten Moment gehofft, dass sie überleben. Das ist eigentlich merkwürdig: Es hat sich fast niemand im KZ umgebracht. Die Selbstmordrate war derart niedrig, dass ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass Selbstmord ein Luxus der Wohlstandsgesellschaft ist.

Ihre Mutter hat Ihnen in Birkenau vorgeschlagen, Selbstmord zu begehen – und Sie haben das brüsk zurückgewiesen.

Das war am ersten Tag. Da ist so etwas noch vorgekommen, später aber nicht mehr. Und außerdem war meine Mutter paranoid.

Das kann man ihr in der Situation wohl nicht verdenken.

Sie war es auch nachher. Wenn sie in Kalifornien auf der Straße Polizei gesehen hat, war sie durchaus fähig zu sagen: „Die wollen mich deportieren.“ Und sie hat sich im Pass sechs Jahre jünger gemacht – um den ganzen Krieg jünger.

Was auffällt, wenn man Dokumentationen über das Leben im KZ sieht oder Erlebnisberichte liest: Der Mensch ist unglaublich anpassungsfähig an widrige äußere Umstände.

Ja, das ist absolut richtig. Es ist unglaublich, was die Menschen auf sich nehmen können. So viel, dass man schon gar nicht mehr weiß, was menschengemäß ist. Weil alles geht.

Die Idee einer Revolte oder der Versuch eines Ausbruchs hat es nie gegeben?

Aufgrund des Prinzips Hoffnung? Man dachte, es wird schon irgendwann vorbei sein. Aber es war unmöglich, sich zu organisieren. Und die hatten die Waffen. Revolten kommen ja auch in Gefängnissen sehr selten vor.

Zerbricht in der Not jede Solidarität?

Ich habe das nicht so empfunden. Gerade im letzten Lager, in Christianstadt, haben die Frauen mehr oder minder zusammengehalten.

Sie erzählen, dass es einmal für fünf Frauen eine Schüssel Wasser gab. Sie waren die letzte und kleinste, Sie bettelten, Ihnen doch auch einen Schluck übrig zu lassen. Doch die Frau vor Ihnen trank die Schüssel aus.

Die war unsympathisch, dass muss man schon sagen.

Und die, die in der Küche arbeiten konnten, sind dick geworden – wie auch deren Kinder. Gab es da nicht Hassgefühle?

Nein, ich kann mich nicht an Hass erinnern, an Neid aber schon. Die in der Küche waren die Aristokraten. Meine Grunderfahrung im letzten Lager war, dass die Frauen sehr nett zu mir waren. Sie haben einen behandelt, als ob man zur Familie gehört. Ich hatte Vertrauen zu diesen Mitgefangenen. Das ist auch irgendwie die Grundlage für meinen Feminismus. Ich hab’s ganz gut gehabt mit Frauen.

Was ich bemerkenswert fand: Obwohl Sie im Konzentrationslager abgeschottet waren, wussten Sie über das Kriegsgeschehen recht gut Bescheid.

Nicht im Detail. Das durchgehende Motiv war: Die Alliierten werden den Krieg gewinnen. Das war mal sicher. Es ist eigentlich merkwürdig, wenn man an die vielen Siege der Deutschen zu Beginn denkt: Niemand, den ich kannte, hat geglaubt, dass die Deutschen den Krieg gewinnen könnten. Und dann erinnere ich mich genau an das Landen der Amerikaner in der Normandie. Da war ich in Birkenau. Das hat sich schnell herumgesprochen. Und dass die russische Front näher gekommen ist: Das konnte man ja hören.

Verzeihen Sie, ich komme nochmals auf die Selektion zurück: In einem Interview sagten Sie, dass der Arzt, der Sie begutachtete, möglicherweise Josef Mengele war. Cordelia Edvardson, die Sie vorhin erwähnten, war zeitweise seine Schreibkraft.

Es wäre eine Aufschneiderei, wenn ich mit Bestimmtheit sagte: „Mengele hat mich auf die andere Seite…“ Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ihn auf einem Foto erkannt zu haben. Und es ist bekannt, dass er bei diesen Selektionen dabei war.

Einen Vorteil hatte Ihre furchtbare Jugend: Sie machten in Straubing schon mit knapp 15 die Matura. Dann gingen Sie nach New York – und waren noch keine 19, als Sie Ihren Bachelor of Arts hatten.

Das war keine richtige Matura, das war ein Mist. Ich glaube, meine Mutter hat Druck auf die Lehrer ausgeübt. Ich konnte eigentlich nichts. Ich habe noch immer unglaubliche Bildungslücken. Und das ist das, was mich am meisten ärgert. Ja, sie gaben mir den Bachelor nach zweieinhalb Jahren statt nach vieren. Ich wäre gern noch länger geblieben. Aber die wollten gute Statistiken haben.

Kommt es darauf an, mathematische Formeln zu können? Oder darauf, sich im Leben zurechtzufinden?

Sie wollen das irgendwie auf einen positiven Nenner bringen. Aber es war einfach keine gute Zeit. Und die Verluste sind weitaus größer als irgendwelche Gewinne. Nicht nur Sie, auch andere Journalisten interviewen dann Leute, die Erfolg gehabt haben. Und man vergisst darüber die, die untergegangen sind. Das sind die meisten. Denken Sie nur an die Ausstellung „Entartete Kunst“: Wie viele Namen gibt es da, die man nie mehr wieder gehört hat! Das sind enorme Verluste. Es war bei den meisten eben nicht so wie bei Brecht und Mann, die etwas anfangen konnten im Exil. Es ist eben umgekehrt: Es war ein Zeitalter der Verluste.

Manche sagen, es müsse einmal Schluss sein mit der NS-Aufarbeitung. Sie haben Kinder und Enkelkinder. Hören sie Ihnen zu – oder wollen sie nichts von Ihrer Vergangenheit wissen?

Ich habe nicht so viel darüber geredet. Kennen Sie „Maus“ von Art Spiegelman? Das darf ich Ihnen wärmstens empfehlen! Das ist ein Comics über den Holocaust. Man glaubt, es geht nicht, aber es geht. Der Anlass dafür war ganz offensichtlich der Vater, der nicht aufhört, davon zu erzählen, wie es im Lager war. Die Kinder von KZ-Überlebenden klagen immer wieder: „Wir haben genug.“ Die Kinder haben das Gefühl, man will ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Und andere klagen, dass man ihnen überhaupt nichts erzählt hat. Das hört man in Österreich oft. Man erzählt entweder zu viel oder zu wenig. Beeindruckt habe ich meinen jüngeren Sohn nicht mit meinem Buch „weiter leben“, sondern weil in Wien 100.000 Exemplare verschenkt wurden.

Zehn Tage später, am 17. Juni 2011, schrieb ich Ruth Klüger, dass das Interview am nächsten Tag – leider stark gekürzt – in der „Standard“-Wochenendbeilage „Album“ erscheinen werde. Ich hätte aber in Hinblick auf eine mögliche Publikation das gesamte Gespräch abgetippt und würde sie daher bitten, doch die angefügte Langfassung zu lesen. Ruth Klüger antwortete: „Sie können damit machen, was Sie wollen. Ich will Ihnen nicht dreinpfuschen und herumkorrigieren.“

Wieder zehn Tage später, am 27. Juni, meldete sie sich aber noch einmal: „Ich bin wieder in Irvine, Kalifornien, geniesse die Sonne und versuche mit all dem Kram fertig zu werden, der sich in meiner Abwesenheit angehäuft hat. Das Interview habe ich sorgfältig durchgelesen, wie Sie es ja wünschten.“ Ganz brav hätte sie sich zwei Fehler notiert. Der eine betraf eine missverständliche Formulierung. Und der andere? Klüger schrieb: „Sie zitieren mein Buch ‚weiter leben’ einmal als ‚weiter schreiben’, ein Fehler, den ich als freundliche Fehlleistung deuten möchte, nämlich, dass Sie wünschen, ich möge auch weiterhin und mehr schreiben.“ Ich musste grinsen.

Die Langfassung des Interviews erschien in meinem Buch “Das Zeitalter der Verluste. Gespräche über ein dunkles Kapitel”, veröffentlicht 2013 im Czernin Verlag.

Copyright: Thomas Trenkler 2011/2015
Foto: Thomas Trenkler

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