Walter Arlen: “Das Blut auf dem weißen Schnee werd’ ich nie vergessen”

Der 97-jährige Komponist und Musikkritiker Walter Arlen über seine glückliche Kindheit im Wiener Warenhaus Dichter, den “Anschluss”, die Reichspogromnacht am 9. November 1938 – und seine Flucht im März 1939 nach Chicago.

In den letzten 25 Jahren habe ich derart viele Interviews mit Opfern des NS-Regimes geführt, dass ich dachte, mit dem Thema mehr oder weniger “durch zu sein”. Auch deshalb, weil beim Czernin Verlag ein Sammelband mit dem Titel “Das Zeitalter der Verluste” erschienen ist. Es beinhaltet Interviews mit George Tabori, Ruth Klüger, Gerhard Bronner, Hans Landesmann, Marko M Feingold, Herbert Zipper, Erich Lessing und vielen anderen. Die meisten leben nicht mehr.

Doch dann bat mich mein Chefredakteur, Helmut Brandstätter, ein Interview mit dem 97-jähringen Komponisten Walter Arlen zu führen. Und dieses Gespräch berührte mich wie kaum ein anderes. Eine der zentralen Passagen lautet:

“Wissen Sie, wie mühsam es war, bis man von den Nazis eine Unbedenklichkeitserklärung bekommen hat? Was das für byzantinische Rennereien waren? Und dass man nur mit zehn Reichsmark in der Tasche ausreisen durfte? Zehn Mark! Und wissen Sie, wie das mit dem Pass war? Man musste sich auf der Prinz-Eugen-Straße vor dem Palais Rothschild, das dann zerstört wurde, anstellen. Ich bin um acht Uhr abends hingegangen, im Jänner, und die ganze Nacht g’standen. Es hat geschneit, es war eiskalt. Eine lange, lange Schlange. Wie es Tag geworden ist, lag tiefer Schnee. Dann kamen die Nazis mit Gewehren. Sie brachten Schaufeln. Und sie haben nur alte Juden ausgesucht, um Schnee zu schaufeln. Einer konnte nicht mehr. Er stützte sich auf den Stiel. Die Nazis schrien ihn an: “Du Saujud! Schaufel!” Aber er rührte sich nicht. Dann haben sie ihm die Schaufel weggenommen. Der alte Mann fiel um. Und dann haben sie ihm mit der Schaufel den Kopf abgeschlagen. Vor mir. Vor allen. Und das Blut auf dem weißen Schnee. Das werd’ ich nie vergessen.”

Das Interview erschien heute, am 9. November 2017, auf einer Doppelseite im KURIER. Denn vor genau 79 Jahren zerstörten die Nationalsozialisten in der “Kristallnacht”, wie sie es nannten, Tausende Synagogen. Walter Arlen hat diese “Reichspogromnacht” miterlebt: Er sah die Tempel brennen. Ich würde mich freuen, wenn dieses Interview viele Leserinnen und Leser fände.

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