Arthur Schnitzlers Nachlass: Gerettet – und enteignet

Die Universität von Cambridge machte sich in der NS-Zeit eiskalt die Notsituation einer jüdischen Familie aus Wien zunutze. Denn sie verleibte sich den Nachlass des Schriftstellers Arthur Schnitzler ein – und schaffte, was den Nationalsozialisten nicht gelungen war: Sie enteignete mehr oder weniger Heinrich Schnitzer, den Sohn und Alleinerben. Eine gekürzte Fassung erschien am 11. Jänner 2015 im “Kurier”. Am 12. Jänner folgte im “Kurier” die Einschätzung des Wiener Rechtsanwalts Alfred Noll: Er spricht von einer “schönen Schweinerei”. –

Das Erstaunen war groß im Mai des vergangenen Jahres: Der Zsolnay-Verlag veröffentlichte unter dem doppeldeutigen Titel „Später Ruhm“ eine bis dahin unbekannte Novelle von Arthur Schnitzler. Die „Geschichte von einem greisen Dichter“, 1895 fertig gestellt, schaffte es sogleich auf die Bestsellerlisten – und wird nun in mehrere Sprachen, darunter ins Englische, Spanische, Rumänische und Niederländische, übersetzt.

Wilhelm Hemecker und David Österle, die beiden Herausgeber, hatten die Novelle in der Universitätsbibliothek von Cambridge entdeckt. Dort lag der umfangreiche Nachlass von Schnitzler seit Mai 1938 in einer Art „Dornröschenschlaf“. Und er dürfte nach heutigen Moralvorstellungen nicht rechtmäßig dort sein. Denn die Eliteuniversität profitierte von der Notsituation, in der sich die jüdische Familie Schnitzler nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich befand. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ließ man kein Unrechtsbewusstsein erkennen: Die Bibliotheksleitung erpresste Heinrich Schnitzler, den Sohn von Arthur Schnitzler.

Die komplexe Geschichte beginnt noch zu Lebzeiten Schnitzlers. Otto Paul Schinnerer, Assistenzprofessor an der Columbia University in New York, forschte ab 1928 mehrere Sommer lang in Wien über Schnitzler. Der Schriftsteller machte ihm sein gesamtes Archiv zugänglich: „Er bringt prächtig Ordnung in meine Sachen“, hielt Schnitzler in seinem Tagebuch fest. Und Schinnerer gab sein Wissen weiter: Ab 1930 hielt der Germanist regelmäßig Vorlesungen über Schnitzler.

Nach dem Tod von Schnitzler im Oktober 1931 blieben die Materialien in dessen Haus in der Sternwartestraße, in dem Olga Schnitzler wohnte. Sie gilt als Witwe, obwohl sich das Ehepaar Schnitzler bereits 1921 scheiden ließ. Die Schnitzlers hatten zwei Kinder: Heinrich, geboren 1902, und Lili. Im Juli 1928, mit 18 Jahren, verübte die Tochter Selbstmord: Damals, notierte Schnitzler in seinem Tagebuch, „war mein Leben doch zu Ende“.

Mit Besorgnis verfolgten Olga und Heinrich Schnitzler die Entwicklungen in Deutschland: Am 30. Jänner 1933 kam es zur Machtübergabe an Adolf Hitler, wenig später begann die Entrechtung der Juden. Arthur Schnitzler gehörte zu den Autoren, „die 1933 durch öffentliche Verbrennung ihrer Werke ausgezeichnet“ wurden, wie es Heinrich Schnitzler rückblickend ausdrückte.

Und dann, am 12. März 1938, marschierte Hitler in Österreich ein. Bereits in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ wurden prominente Juden sonder Zahl verhaftet und enteignet. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die SS in der Sternwartestraße auftauchen würde, bis die NS-Schergen „jeden Winkel des Hauses durchsuchen, jede Schublade auskippen, mit ihren Stiefeln, ihrem Hass alles zerstören, zertreten, verbrennen würden“. Derart plakativ beschreibt es Jutta Jacobi in ihrem Buch „Die Schnitzlers“, das kürzlich im Residenz Verlag erschien.

Und sie erzählt ausführlich von der Rettung des Nachlasses. Damals war Eric A. Blackall, ein Student aus Cambridge, in Wien, um an seiner Dissertation über Adalbert Stifter zu arbeiten. Er erkannte sofort die Gefahr: Am 19. März 1938 fragte er bei der Bibliothek seiner Universität nach, ob sie bereit wäre, den Nachlass als Geschenk der Erben zu akzeptieren („as a gift from the heirs“). Das Konsulat in Wien würde, so Blackall, die Materialien bis zum Abtransport unter Schutz zu stellen.

So kam es auch. Am 21. März 1938 wurde Schnitzlers Nachlass von Konsul John Taylor zum Eigentum der Bibliothek von Cambridge erklärt – und das Arbeitszimmer mit dem britischen Hoheitszeichen versiegelt. Zwei Monate später, am 23. Mai, holte ein Spediteur acht Kisten mit Manuskripten, Skizzen, Notizen, umfangreichen Korrespondenzen und der Totenmaske Schnitzlers sowie vier Kisten mit vielen tausend Zeitungsausschnitten ab.

Für seine Verdienste sei Blackall, wie Jacobi schreibt, vielfach ausgezeichnet worden, Olga Schnitzler hingegen sei „immer leer ausgegangen“. In ihrem Buch, autorisiert von den Enkeln Arthur Schnitzlers, erzählt Jacobi daher, „wie Olga Schnitzler den Nachlass rettete“. Die Autorin stützt sich dabei auf einen Brief von Heinrich an seine Mutter, in dem es heißt: „Du hast den Nachlass aus Wien heraus gerettet und hast diesen Abschnitt der Geschichte ganz allein und wunderbar geleitet.“

Er selber wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Denn der Regisseur war seit Mitte Februar in Brüssel engagiert – und kehrte nach dem „Anschluss“ nicht nach Wien zurück. Über Zürich emigrierte er mit seiner Frau Lilly und Sohn Peter, geboren 1937, nach New York.

Dorthin wollte er den Nachlass seines Vaters verbracht wissen. Otto Paul Schinnerer hatte ihm geschrieben, dass die Columbia University nur zu gern bereit wäre, die Materialien in Verwahrung zu nehmen. Heinrich Schnitzler wollte die Stoffe seines Vaters – grandiose Geschichten über Liebe, Begehren und Rache – Hollywood zur Verfilmung anbieten. Er war schließlich der alleinige Erbe und Verwalter des Nachlasses.

Doch die Aktivitäten seiner Mutter kamen ihm in die Quere. Sie war einer Einladung nach Cambridge gefolgt und heilfroh, den Nationalsozialisten entkommen zu sein. Zudem weigerte sich die Bibliothek beharrlich, den Nachlass wieder herauszugeben. Über diese äußert bittere Entwicklung, die schließlich in einer „Kapitulation“ von Heinrich Schnitzler mündete, berichten die Herausgeber der Novelle „Später Ruhm“ in der aktuellen Ausgabe des renommierten Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft unter dem lapidaren Titel „… so grundfalsch war alles weitere“.

Wilhelm Hemecker, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien, und sein Mitarbeiter David Österle zitieren in ihrem Beitrag aus der bisher unveröffentlichten Korrespondenz zwischen Heinrich Schnitzler und seiner Mutter. Diese befindet sich im Österreichischen Theatermuseum in Wien sowie im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

In ihren Briefen an „Heini“ schwärmt Olga Schnitzler von Cambridge: „Viele interessante Menschen gibt es hier, und mit mir sind sie reizend. Ich fühle mich wohl unter ihnen.“ Ganz angetan ist sie von Alwyn Faber Scholfield, dem Leiter der Bibliothek: Er sei „ein prächtiger nobler gut aussehender Mann“ mit vollendeten Formen. Auf dessen Frage, was sie von Cambridge erwarte, habe sie geantwortet: Nichts – außer Gastfreundschaft gegenüber dem Werk eines heimatlosen Dichters („Hospitality for the work of a homeless poet“). Dies kam der Witwe zugute: Nach einer Intervention von Scholfield erhielt sie eine unbeschränkte Aufenthaltsbewilligung.

Die Schnitzlers befürchteten aber schon bald, dass sich die Bibliothek als Besitzer des Nachlasses fühlen könnte. Olga schrieb an ihren Sohn: „Ich bin dafür, Heini, dass wir, Du und ich, so arm wir sind, den Transport der Kisten selbst bezahlen, oder es wenigstens vorschlagen, damit wir völlig freie Hand behalten.“ Das war ganz im Sinne des Sohnes: Er beglich die Rechnung – auch um alleiniger Verfügungsberechtigter auftreten zu können.

Am 4. Oktober 1938 erläuterte er erneut seiner Mutter, dass er den Nachlass dringend in New York brauche. Er sehe überhaupt keine allzu großen Verpflichtungen gegenüber Cambridge: „Wirklich geleistet haben nur zwei Menschen etwas (außer Dir natürlich!): der Konsul – und Mr. Blackall. Und die haben beide mit der Universität gar nichts zu tun!! Den Transport habe ich bezahlt.“

Er schlägt vor, der Bibliothek einige Manuskripte „als Zeichen des Danks“ zu schenken, alles andere solle nach New York transportiert werden: „Ich denke, dass alles ganz glatt gehen wird.“ Doch Schnitzler täuschte sich gewaltig. Denn Scholfield hielt am 31. Oktober 1938 fest, dass der Nachlass der Universität übergeben worden sei; keine Manuskripte könnten nun die Bibliothek verlassen.

Heinrich Schnitzler war außer sich. Olga versuchte daraufhin, ihren Sohn zu beruhigen: „Du gehst von völlig falschen Voraussetzungen aus. Der Nachlass gehört uns nämlich nicht mehr. Von dem Augenblick an, wo der englische Konsul in Wien, Captain Taylor, seine amtlichen Siegel an das Archiv legen ließ, und ich Erich Blackall die Schlüssel zu unserem Archiv übergeben habe, ist der Nachlass in englischen Besitz übergegangen. Es war die einzige Möglichkeit und die einzige Form, ihn zu schützen.“

Doch eigentlich war Olga nicht befugt dazu. Und der Alleinerbe wurde nie gefragt. Im weiteren Verlauf geht es Heinrich Schnitzler darum, Rechtssicherheit herzustellen: „Es muss selbstverständlich zwischen der Cambridge-University und uns ein juristisch einwandfreier Vertrag gemacht werden. Wir müssen nach diesem Vertrag jederzeit das Recht haben selbst an den Nachlass heranzukönnen.“ Zudem müsse sich die Universität dazu verpflichten, die Vorschriften des Testaments zu beachten – und sie dürfe nichts verschenken. Schnitzlers Sohn ist in New York ziemlich verzweifelt: „Diese ganze Geschichte bedeutet für mein Gefühl dass endgiltige Begrabensein des gesamten Materials. Hier hätte es noch ein Fortleben gegeben – dort ist es wirklich aus. Tot und vergessen.“

Am 20. Jänner 1939 ergänzt er: „Liebe Mutter, ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mich diese ganze Angelegenheit bedrückt und beschäftigt. Selten ist so sehenden Auges das Falsche gemacht worden. Dass ein Herr Scholfield, schließlich selbst nur ein Angestellter, über das Fortleben von Vaters Andenken zu entscheiden haben würde – nun, ich hätte mir das niemals träumen lassen.“ Und am 26. Jänner schreibt er: „Ich bin – leider – machtlos, wiewohl ich doch juristisch DER Verfügungsberechtigte bin! Eine verteufelte Situation.“

Die Mutter erwiderte: „Wer sich im März in das gefährdete, unangenehm beobachtete leere Haus in der Sternwartestrasse begeben hat, war ich, und wer sich um den Nachlass leider nicht bemüht hat, warst Du. Wenn es auf Dich ankäme, wäre der Nachlass heute in den Händen der Nazis. Dass er von Cambridge aus geschützt wurde, war ein Glück.“

Und Heinrich Schnitzler: „Der Fall liegt rechtlich vollständig klar. Und ebenso klar die Lümmelei dieser Gentlemen. Ich bin der Eigentümer des Nachlasses. Ich habe ihn niemals hergeschenkt. Niemand hat mit mir darüber auch nur eine Zeile gewechselt. Nur Herr Scholfield, ein Angestellter, hat mich vor ein fait accompli stellen wollen. Niemand hat sich jemals bei mir für das Geschenk bedankt, niemand hat mir, dem Eigentümer, den Empfang bestätigt, niemand die Bezahlung des Transports.“

Der Ton zwischen Mutter und Sohn wird immer harscher, fast kommt es zum Zerwürfnis. Am 7. März 1939 fasste Olga Schnitzler in einem Brief an Eric Blackall die Ereignisse zusammen: Heinrich habe von Amerika aus immer mehr gegen die Situation zu protestieren begonnen – verständlicherweise. Und schließlich habe „Heini, über meinen Kopf hinweg, entgegen meinem Rat, in einem Brief an Scholfield den ganzen Nachlass wieder zurückerbeten: Ich möchte dir gar nicht erst schildern, wie mir zumute war.“ Denn: „Ich habe auch keinen Augenblick vergessen, wie rührend sich diese Männer in Cambridge mir gegenüber benommen haben.“

Nach diesem Brief emigrierte auch Olga in die USA. Im Gepäck hatte sie – mit Erlaubnis der Bibliothek – einige Materialien: die Tagebücher, die Autobiografie, die Manuskripte „Liebelei“, „Casanova’s Heimfahrt“, „Reigen“ und „Träume“, ferner private Familien- und Frauenbriefe. Der große Rest verfiel in Cambridge, wie es Olga Schnitzler ahnte, in einen „ewigen Dornröschenschlaf in festvernagelten Kisten“.

Im Spätsommer 1939 versuchte Heinrich Schnitzler, den Vertrag mit der University abzuschließen. Strittig war schließlich nur mehr die Frage der Kontrolle über den Zugang zum Nachlass. Schnitzlers Bitten wurden aber nicht erfüllt. Im Juni 1940 schickte Heinrich Schnitzler noch eine beglaubigte Fotokopie des Testaments seines Vaters nach Cambridge. Die Universität blieb stur.

Ab September 1946, eineinhalb Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erbat Schnitzler zweimal Mikrofilme von diversen Materialien. Sie wurden ihm übermittelt. Am 11. August 1949 forderte er nochmals Mikrofilme – vom gesamten restlichen Bestand. Doch nun weigerte sich die Bibliothek. Beziehungsweise: Sie forderte im Gegenzug, dass Schnitzler quasi auf alle Rechte verzichtet.

Selbst Olga war nun ungehalten. In ihrem Brief vom 15. Februar 1950 schlägt sie ihrem Sohn vor, in der Korrespondenz zu erwähnen, „dass ja die ganze Schenkung im höchsten Grad ein ,case of emergency’ gewesen ist“, also ein „Fall von Notlage“. Am 3. März 1950 versuchte Heinrich Schnitzler ein letztes Mal, seine Ansprüche geltend zu machen. Erneut blitzte er ab. Sein Brief vom 5. April 1950 an Olga Schnitzler ist von äußerster Verbitterung gekennzeichnet: Man schäme sich nicht, „Nutzen aus der seinerzeit von den Nazis geschaffenen Situation ziehen zu wollen“ – und verlange von ihm die „bedingungslose Kapitulation“. Olga Schnitzler pflichtet bei: Cambridge „vollendet, was die Nazis (vielleicht) getan hätten, – nämlich uns enteignen.“ Das dürfe man aus Prinzip nicht durchgehen lassen.

Heinrich Schnitzler will nun mit der Hilfe eines Advokaten gegen Cambridge vorgehen. Doch am 15. April 1950 muss er seiner Mutter berichten, dass er sich die Anwaltskosten nicht leisten könne. Am 19. Mai 1950 zieht er die Konsequenz: „Und so werde ich wohl klein beigeben müssen.“ Am 30. Mai schließlich informiert er Olga darüber, dass man ihm geraten habe, „die Bedingungen von Cambridge einfach anzunehmen, da die Leute sonst am Ende die Mikrofilme nicht herstellen lassen werden“: Die Herren in England seien in einer Lage, „wo sie uns diktieren können“.

Hemecker und Österle versagen sich in ihrer Darstellung so gut wie jeden Kommentar. Eines aber stellen sie schon fest: Heinrich und Olga Schnitzler mussten aufgrund des kompromisslosen Vorgehens der Bibliotheksleitung „am Ende den bittersten Vergleich“ akzeptieren, „der überhaupt, zumal unter Exilierten dieser Ära, denkbar ist“. Sollte es so etwas wie Moral geben: Cambridge müsste den Nachlass an die Enkeln von Arthur Schnitzler restituieren.

Copyright: Thomas Trenkler 2015

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