Erich Lessing: “Und so bin ich immer noch da”

Am 26. April 2015 wird im Jüdischen Museum Wien am Standort Judenplatz die Fotoausstellung “Lessing zeigt Lessing” eröffnet: Zum Schwerpunkt 1945/2015 hat Hannah Lessing, Generalsekretärin des Österreichischen Nationalfonds, eine sehr persönliche Auswahl von Bildern ihres Vaters Erich Lessing getroffen. Aus diesem Anlass ein Interview, das ich im März 2012 mit Erich Lessing, am 23. Juli 1923 in Wien geboren, führte. Es wurde unter dem Titel „Man dachte: Es wird schon vorbeigehen“ in meinem Buch “Das Zeitalter der Verluste. Gespräche über ein dunkles Kapitel” (Czernin Verlag) veröffentlicht. –

Ihre Familie wurde vom NS-Regime verfolgt, Sie konnten nach Palästina fliehen. Warum sind Sie bereits 1947 wieder nach Wien zurückgekehrt?

Ich wollte eigentlich nach Paris auf die Filmakademie, aber ich hab‘ kein Frankreich-Visum bekommen – weder in Jerusalem, noch in Wien. In Wien konnte ich wenigstens schauen, ob noch irgendjemand von unserer Familie am Leben ist. Und dann bin ich hängen geblieben. Ich hatte kein Geld mehr, suchte einen Job, hab meine Frau kennengelernt. Und so bin ich immer noch da.

Sie wuchsen im achten Bezirk auf, in der Albertgasse, gleich beim Café Hummel.

Ich ging in eine ganz progressive Volksschule, die erste Otto-Glöckel-Versuchsschule. Wir haben sie geliebt. Auch das RG 8, ein Realgymnasium, war eine gute Schule, aber nach dieser wunderbaren Volksschule entsetzlich.

Im März 1938, als die deutschen Truppen in Österreich einmarschierten, waren Sie knapp 15 Jahre alt. Wie haben Sie die NS-Zeit erlebt?

Es gab nur ein paar Raufereien und unangenehme Erlebnisse. Ich ging für ein paar Monate in eine jüdische Klasse. Der Klassenvorstand, Professor Otto Repp, war Musikkritiker der Reichspost. Er hatte jahrelang neben meiner Mutter im Abonnementkonzert der Philharmoniker gesessen. Nach dem Anschluss kam er mit dem illegalen Parteiabzeichen am Revers herein. Ich fing eine Ohrfeige, weil ich nicht schnell genug aufgestanden bin. Der von uns gehasste und gefürchtete Mathematikprofessor hingegen sagte: „Ich begrüße die neuen jüdischen Schüler. Ich hoffe, Sie alle werden diese komplizierte Zeit wohlbehalten und in Frieden überstehen. Wir gehen über zum archimedischen Lehrsatz.“ Im Sommer 1938 wurde die Schule für uns gesperrt.

Was haben Sie dann gemacht?

Wir Jugendliche haben uns in den jüdischen Heimen in der Oberen Donaustraße und in der Jordangasse um die Jüngeren, um die Kinder gekümmert.

Sofort zu fliehen, kam Ihnen nicht in den Sinn? Im November 1938 war die „Reichskristallnacht“.

Aber danach hieß es, das sei nicht gewollt gewesen, das waren die Rowdys. Dass die Vernichtung geplant war, hat niemand geglaubt. Man dachte: Es wird schon vorbeigehen. Erst Ende 1939 hat man geahnt, dass es für die Juden schlecht ausgehen wird. Und dann hat meine Generation versucht, noch schnell wegzukommen. Arg wurde es erst, als man keine Ausreisepapiere mehr bekommen hat. Ich erinnere mich noch an den zerstörten Tempel in der Seitenstättengasse. Ich wurde vorgeladen, um in ein Jugendlager nach Polen zu fahren. Nach Lublin. Ich bin zwar zum Bahnhof gegangen, aber in Meidling mit einem Freund wieder ausgestiegen. Wir dachten uns: „Das riecht nicht gut, steigen wir lieber aus.“ Sonderbarerweise hat uns niemand aufgehalten. Das war Anfang Dezember 1939.

Und dann sind Sie nach Palästina.

Über Triest. In Haifa bin ich am 28. Dezember 1939 angekommen – am Tag des Kriegseintritts Italiens. Im letzten Moment. Die „Galiläa“ ist in Haifa eingelaufen, hat ausgeladen – und ist sofort wieder weg. Weil der Kapitän genau wusste, dass er zwei Stunden später festsitzen würde.

War es nicht schwierig, eine Schiffspassage zu bekommen?

Das ging automatisch, wenn man ein Ausreise- und ein Einreisevisum hatte. Ich hatte zwei Auflagen zu erfüllen, um ein Ausreisevisum zu bekommen: Man musste die „Juva“, die Judenvermögensabgabe, zahlen. Und dann brauchte ich eine Steuerunbedenklichkeitserklärung. Die Gestapo machte sich den Spaß, dass die eine abgelaufen war, bevor die andere gültig wurde. Was sollte ich tun? Ich weiß nicht, war es der Teddy Kollek, der gerade zu Verhandlungen mit Adolf Eichmann in Wien war, oder der Dolfi Brunner . Jedenfalls, einer der beiden sagte zu mir: „Naja, aus dem 9. Dezember machen wir einen 19. Dezember. Dann gehst Du in die Naglergasse zur Lichtbildstelle Alpenland und verlangst den Herrn Harand. Dem sagst Du, dass du eine Kopie brauchst.“ So ging ich in die Naglergasse. Herr Harand schaute sich die Papiere an und sagte: „Besonders gut leserlich wird die Kopie nicht sein. Du gehst dann in die Alserstraße zu einem Notar über dem Café Wöst“ – ich weiß seinen Namen nicht mehr – „und sagst ihm, dass du von mir kommst. Er möge bitte die Kopie beglaubigen. Und mit der fährst du weg. Das Original lässt Du beim Notar.“ So geschah es auch. Die beiden haben das sicher einige Male gemacht und einige Menschen gerettet – so auch mich.

Sie sind mit dem Zug nach Triest?

Ja. Mit einem Kollegen verbrachte ich eine Nacht in einem Jugendlager – und dann sind wir auf das Schiff und weg.

Ihr Vater war damals bereits tot?

Er starb 1933, ich hatte einen Vormund.

Und Ihre Mutter?

Sie hätte mit einem illegalen Transport die Donau hinunter fahren können. Aber die Holländer, die diese Transporte organisierten, nahmen ältere Personen nicht mit, weil es zu gefährlich war. Meine Großmutter hätte daher nicht mitkommen können. Meine Mutter wollte sie nicht allein lassen. Meine Großmutter kam später nach Theresienstadt. Und meine Mutter nach Auschwitz. Beide kamen um.

Haben Sie deren Schicksal eruieren können?

Nein. Meine Tochter Hannah ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Aber auch sie fand nichts heraus.

Wie erfuhren Sie vom Tod ihrer Mutter?

Es gab die Möglichkeit, einmal im Monat fünf Zeilen über das Rote Kreuz zu schreiben: „Wie geht es Dir? Mir geht es gut.“ Als 1943 kein Lebenszeichen mehr kam, wusste ich: Da ist etwas passiert.

Da waren Sie schon im Kibbuz?

Nein, ich studierte noch am Technion Radiotechnik. Das war eine schöne Zeit. Damals lernte ich Gerhard Bronner kennen. Er war Pianist in einer Bar in Achusa, einem Stadtteil von Haifa am Karmel. Und ich war Taxichauffeur. Von Zeit zu Zeit wurde nachts aus der Bar angerufen: „Der Pianist braucht ein Taxi.“ So sind wir draufgekommen, dass wir beide aus Wien stammen. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Ich lernte bei ihm Klavier. Meine Mutter war eine gute Konzertpianistin gewesen. Aber der Gerhard hat es bald aufgegeben. Er sagte: „Aus Dir wird nie ein Pianist werden.“ Aber ich chauffierte nicht nur ihn, sondern auch seine Frau: Ich holte sie mit dem neugeborenen Baby vom Krankenhaus ab und brachte sie nach Hause. Das Baby war Oscar Bronner.

Fotografierten Sie bereits?

Ja, das Fotografieren hat mich immer schon interessiert, aber es war keine Lebensaufgabe. Ich bin noch immer der Fotograf ohne Kamera. Ich muss nicht andauernd fotografieren.

Wie wurden Sie Reportagefotograf? Erst in Wien?

Ja. Ich dachte mir: Das Landwirtschaftsleben im Kibbuz, das Züchten von Fischen, ist doch nicht meine Lebensaufgabe. Schauen wir doch einmal, wie das mit der Fotografie ist. Und das war damals, 1945/46 eine herrliche Lebensart: Strandfotograf – in Netanja. Das war lustig, aber auch nicht erfüllend. Und so wollte ich nach Paris.

Aber Sie kamen nach Wien.

Zunächst mit einem kleinen Schiff von Haifa nach Neapel. Über Rom und Venedig. Und dann mit dem Zug über den Brenner. Ich versuchte, Fotos zu verkaufen, aber das hat niemanden interessiert. Ich ging von einer Agentur zur anderen, niemand suchte einen Fotografen. Nur die Reporterin der Associated Press sagte: „Lassen Sie Ihre Adresse da! Vielleicht brauchen wir einmal einen Fotografen.“ Ich lebte in einer kleinen Pension in der Schubertgasse. Auf einmal kam die Vermieterin: „Die Polizei sucht Sie! Sie müssen sofort aufs Kommissariat!“ Ich dachte mir: Ich bin ja nicht in der russischen, sondern in der amerikanischen Zone, ich kann da ruhig hingehen. Und dort sagte man mir: „Die Amerikaner suchen Sie! Sie sollen sich bitte in der Seidengasse melden.“ Ich ging hin – und traf auf die Reporterin. Ich wurde gleich angestellt. Ein Jahr später hat sie gekündigt. Weil man ja doch im Büro kein Verhältnis haben soll. So ist meine Freundin Traudl zu Reuters gegangen – und ich bin bei der AP geblieben.

Stimmt es, dass Sie einen viel zu großen Hut getragen haben?

Das behauptet meine Frau. Ich kaufte ihn auf der Rückreise von Palästina in Neapel. Ein Borsalino. Später wurde er mir auf der Bellaria vom Kopf geweht.

Sie blieben aber nicht lange bei der AP.

1950 ging ich über die grüne Grenze bei Berchtesgaden nach Deutschland und arbeitete für das „Heute“, ich machte eine große Reportage über Triest. Ich wollte dorthin zurück, wo ich Europa verlassen hatte. Die Reportage war anscheinend sehr gut – mir würde sie heute sicher nicht mehr gefallen. Und dann bin ich zur „Quick“. Das war eine großartige Zeit. Der Bildredakteur sagte: „Interessiert Sie Spanien? Gut, gehen Sie an die Kasse, nehmen Sie sich 3000 Mark – und kommen Sie gesund wieder.“ Ich rief meine Freundin an: „Lern schnell Spanisch! Und wir müssen heiraten, denn sonst kriegen wir in Spanien kein Doppelzimmer.“ 1951 sind wir nach Spanien, dann nach Frankreich. Es begann ein Jahrzehnt des Herumreisens.

Und Sie wurden Magnum-Fotograf.

Ende 1951 fuhren wir zum ersten Europakongress nach Straßburg. Da kam ein Fotograf auf mich zu: „Ich bin Chim.“ Ich kannte ihn: Er war David Seymour, einer der Gründer von Magnum. Er sagte: „Ich hab von Dir gehört. Komm doch nach Paris, der Ernst Haas ist schon da. Es wär doch schön, wenn wir einen zweiten Wiener hätten.“ Und weil wir keine Wohnung, kein gar nichts hatten, sind wir nach Paris. Aber zuerst haben wir natürlich in München die Bilder abgeliefert – und hatten Krach, was mich für Magnum besonders prädestiniert hat.

Warum Krach?

Der damalige Textredakteur war ein sehr rechtsradikal eingestellter Bürgerlicher. Seine Bildtexte waren sehr antieuropäisch – und nicht so, wie meine Frau sie geschrieben hat. Der Verleger kam vom vierten Stock herunter: „Was ist das für eine Schreierei?“ Ich hab mich durchgesetzt.

Das ist ja das prinzipielle Problem des Bildes: Dass es missbraucht werden kann.

Ja. Man glaubt, dass das Bild an sich eine Aussage hat. Aber es hat keine Aussage. Es ist ein völlig neutrales Gebilde. Eine konkrete Aussage erhält es erst durch die Bildunterschrift. Ohne Text ist das Bild vielleicht sehr schön oder sehr traurig, aber mehr nicht.

Sie haben vorhin Ernst Haas erwähnt. Sie kannten ihn aus Wien?

Ja. Ich lernte ihn bereits in den ersten Tagen in Wien kennen. Und weil ich kein Labor hatte, stellte mir seine Mutter, die in der Blechturmgasse wohnte, ihre Badewanne zur Verfügung, um die Filme zu entwickeln. Da war der Ernstl schon in Paris.

Nach Ihrer Ankunft in Paris wohnten Sie in einem Hotel – und hatten einen berühmten Nachbarn.

Wir waren in einem Hotel in Saint-Germain-des-Prés untergebracht, in der Rue du dragon. Ein besoffener Maler hat ständig randaliert. Ich hätte ihn fotografieren sollen! Es war Francis Bacon. Wir verließen das Hotel bald wieder. Aber nicht, weil er so laut war, sondern weil das Hotel so teuer war.

Die 1950er-Jahre waren eine extrem spannende Zeit: der Wiederaufbau, der Kalte Krieg und so weiter. Was war für Sie das zentrale Ereignis?

Der österreichische Staatsvertrag. Und Ungarn. Die Niederschlagung des Freiheitskampfes war auch der Grund, warum ich aufgehört habe, Schwarzweiß-Reportagen zu machen. Weil sich im November 1956 in Budapest herausgestellt hat, dass unsere Hoffnung, durch die Reportage, durch das Fotografieren den Gang der Weltgeschichte ein bisschen beeinflussen zu können, als Illusion, als Irrtum herausgestellt hat. Jalta war eben wichtiger als Ungarn. Meine Frau lebte damals in Genf, sie leitete die Bildabteilung der Weltgesundheitsorganisation. Sie sagte: „Du kommst von einer Reportage nach Hause – und bist am nächsten Tag wieder weg. So kann das nicht weitergehen.“ Wir beschlossen, nach Wien zu übersiedeln und Kinder zu kriegen. Ich hab mich in die Museen zurückgezogen und 50.000 Kunstwerke fotografiert. Ich begann mit der Farbfotografie und machte große Reportagen, inszenierte Geschichtsfotografie für „Paris Match“ und andere Zeitschriften. Aber ich bin sehr glücklich, die große Zeit der europäischen Politik miterlebt zu haben.

Copyright: Thomas Trenkler 2012/2015

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